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DEUTSCHE
HEBAMMEN
ZEITSCHRIFT 2 |2009
Beruf & Praxis
und bei denen vorausblickend die Zeit
der Schwangerschaft und Geburt ver-
folgt worden war. Die Schwangeren
wurden von Hebammen betreut, die
alle Einzelheiten genau dokumentiert
hatten. Diese Studie zeigte überzeu-
gend, dass eine Hausgeburt – für Frauen
mit geringem Risiko – genauso sicher
ist, wie eine Geburt im Krankenhaus
oder sogar sicherer, weil dort weniger
Interventionen vorgenommen werden.
Das hat aber die Meinung der ameri-
kanischen Geburtshelfer keineswegs
geändert. Sie behaupten immer noch,
dass Hausgeburten gefährlich sind, sie
reden nicht über diese Studie!
Wir haben dasselbe Problem in Deutsch-
land: Seit vielen Jahren werden in einer
Perinatalstudie die außerklinischen
Geburten dokumentiert – ähnlich wie
die Klinikgeburten. Jedes Jahr mit dem
Ergebnis, dass die außerklinische Ge-
burt sicher ist – aber immer noch gibt
es Geburtshelfer, die das nicht wissen.
Die Geburtshelfer wollen nicht glauben,
dass die außerklinische Geburt sicher
ist, weil dieser Gedanke alles zerstört,
woran sie glauben. Sie glauben, dass
sie mehr über die Geburt wissen als die
Hebammen oder die Frauen. Und sie
glauben, dass sie das Richtige tun. Sie
werden nie akzeptieren, dass manches
von dem, was sie tun, falsch sein könnte.
Seit über 20 Jahren ist bekannt, dass
Dammschnitte nicht notwendig sind,
höchstens in fünf, vielleicht sogar nur
in einem Prozent der Fälle. Du brauchst
keinen Dammschnitt! Und trotzdem lag
die Dammschnittrate seit vielen Jahren
in den USA bei über 70 Prozent und
in vielen Ländern noch höher, obwohl
die Studien dazu vorliegen. Aber die
Geburtshelfer schauen nicht auf die
Daten, sie glauben ihnen nicht.
Ja, von diesen Studien habe ich schon
Ende der 70er Jahre in der Hebammen-
schule gehört – trotzdem hatte das dort
keinen Einfluss auf die tägliche Praxis
im Kreißsaal.
In der Fachzeitschrift
Lancet
habe ich
1999 einen Artikel veröffentlicht, mit der
These, dass ein Dammschnitt eine Form
von weiblicher Genitalverstümmelung ist.
Als ich für die WHO tätig war, erhielt ich
einmal einen Brief vom britischen Hebam-
menverband, dem
Royal College of Mid-
wives: Sie waren stolz auf ihren letzten
Kongress, wo sie eine Resolution gegen
die Klitorisbeschneidung in Afrika und
an anderen Orten verabschiedet hatten.
Ich gratulierte ihnen zu ihrem Beschluss,
schrieb aber weiter: Wohltätigkeit fängt
zu Hause an. Sie sollten außerdem eine
Resolution gegen Praktiken in Großbri-
tannien entwerfen, bei denen weibliche
Genitalverstümmelung an Millionen von
Frauen begangen wird – „Dammschnitt“
genannt! Er ist eine Form der Genitalver-
stümmelung, verursacht Sexualprobleme,
Infektionen und dergleichen mehr.
Im Hinblick auf die Dammschnittrate
wird man langsam kritischer.
Ja, interessant ist, dass die Dammschnit-
trate in den USA allmählich wieder sinkt,
sie liegt heute bei 39 Prozent gegenüber
früheren 75 Prozent. Aber in der Zwi-
schenzeit steigt die Rate der Geburts
einleitungen, der Kaiserschnitte und
der Epiduralanästhesien (EDA) an. Ich
spreche auch darüber in meinem Buch
„Born in USA“. Man muss immer mit
berücksichtigen, ob etwas „ärztefreund-
lich“ ist oder nicht. Ein Dammschnitt ist
für einen Arzt keine große Sache: Ärzte
mögen den Schnitt, weil sie nicht herum-
stehen können, ohne etwas zu tun. Aber
es ist nicht so ein wichtiger Eingriff, dass
sie ihn nicht aufgeben könnten. Doch
Einleitungen, Kaiserschnitte, EDAs: Das
sind richtig große Eingriffe: Sie werden
nicht so schnell aufgegeben – sie werden
eher noch weiter ansteigen. Immerhin
sinkt die Rate der Dammschnitte – zwar
noch nicht in Osteuropa und in vielen
anderen Regionen der Welt. Aber Sie
sehen, die Dinge fangen langsam an sich
zu verändern in der Welt.
Sie haben eine sehr zuversichtliche
Sicht angesichts einer Besorgnis erre-
genden Realität, was die Medikalisie-
rung angeht.
1985 hatten wir eine Konferenz der
WHO in Brasilien, wo wir unsere Emp-
fehlungen für evidenzbasierte geburts-
hilfliche Praktiken veröffentlichten,
nachdem wir zuvor alle vorhandenen
wissenschaftlichen Daten
gesichtet und ausgewer-
tet hatten. Im Jahr 2000
fand ein weiteres Treffen
am selben Ort statt mit
dem Thema „Humanisie-
rung der Geburt“. Es war
ein sehr großes Treffen
mit viel Enthusiasmus:
Wir hatten gehofft, dass
um die 1.000 Menschen
kommen würden – es
kamen mehr als 2.000!
Die Teilnehmer kamen
aus ganz Südamerika mit
demWunsch, die Geburt
zu verändern. Ihre Kai-
serschnittrate lag dort in
vielen Krankenhäusern
bei 90 Prozent. Es war so
extrem geworden, dass
die Frauen „Nein“ gesagt
haben. Eine Studie, die
sie durchführten, hatte
bewiesen, dass die Ge-
burtshelfer logen, wenn
sie behaupteten, dass es
die Frauen waren, die
eine Sectio wollten – die
Frauen wollten keinen
Kaiserschnitt. Dort wur-
de auch eine andere Stu-
die veröffentlicht, die all
den Missbrauch an Frau-
en aufdeckte, der in Ge-
burtskliniken stattfindet.
Hatte diese Konferenz
eine Auswirkung auf die
Praxis?
All diese Informationen
trafen zusammen mit dem
Erfolg, dass die brasiliani-
sche Regierung ein Netz von Geburts-
häusern eröffnete. Die WHO und die
brasilianische Regierung arbeiten in
dieser Angelegenheit zusammen. Die
Regierung beschloss auch, Kranken-
häusern ihre Kosten nicht mehr zu
vergüten, wenn sie eine zu hohe Kai-
serschnittrate hatten – die Sectiorate
fiel! Nicht nur in Brasilien, sondern in
ganz Südamerika gibt es viele Bestre-
bungen, die Geburt zu humanisieren.
Dasselbe ist auch in Japan passiert. Vor
hundert Jahren gab es Geburtshäuser
in ganz Japan – tatsächlich waren es
„In meinem Buch ,Born
in the USA‘ skizziere
ich meine Vision: Die
Geburt wird das Kran-
kenhaus verlassen …“
Dr. Marsden Wagner,
geboren in
San Francisco (USA), studierte an
der Universität von Los Angeles
(UCLA, University of California at
Los Angeles) Perinatologie (Neo-
natologie und Geburtshilfe) und
Perinatal-Wissenschaft. Er war viele
Jahre als klinischer Praktiker tätig
und anschließend als Leiter der
Abteilung für Frauen- und Kinder-
gesundheit am kalifornischen staat-
lichen Gesundheitsdienst. Sechs
Jahre lang wirkte er als Direktor des
Forschungszentrums für Gesundheit
an der Universität Kopenhagen und
leitete weitere 15 Jahre lang die
Abteilung für Frauen- und Kinder-
gesundheit der Weltgesundheitsor-
ganisation (WHO). Heute ist er als
unabhängiger Berater tätig.
Kontakt:
der interviewte