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DEUTSCHE
HEBAMMEN
ZEITSCHRIFT 2 |2009
Beruf & Praxis
Katja Baumgarten:
Sie haben ge-
schildert, wie zutiefst geschockt Sie
waren, als Sie Anfang der 1980er Jahre
Ihre erste Hausgeburt miterlebten. Sie
öffnete Ihnen die Augen, was eine
„richtige“ Geburt ist. Waren Sie vor
diesem Erlebnis ein konventioneller
Geburtshelfer?
Dr. Marsden Wagner:
Ja, ich war bis
dahin sehr „orthodox“ in meinen Ideen.
Aber das Erlebnis der Hausgeburt hat
einen persönlichen
Prozess in Gang ge-
setzt. Ich sagte mir:
„Du musst noch ein-
mal zurückgehen
und ganz von vorne
anfangen.“ In den
nächsten fünf Jah-
ren habe ich dann
gelesen und studiert
und habe meine
Denkmodelle und
meine Einstellung
zu Schwangerschaft
und Geburt voll-
ständig geändert.
Am Ende dieser fünf
Jahre gründete ich
mit einigen Fachleuten aus ganz Europa
eine Gruppe. Wir organisierten Treffen,
diskutierten und sammelten Informatio-
nen über die Geburt in den verschiede-
nen Ländern. Schließlich schrieben wir
das Buch „Having a Baby in Europe“, das
von der WHO im Juni 1985 veröffent-
licht und auch ins Deutsche übersetzt
wurde. Es handelte von diesem neuen
Weg, die Geburt zu verstehen. Damit
begann das, was für mich Humanisierung
der Geburtshilfe bedeutet.
Was war für Sie die zentrale Erkenntnis
in diesem Prozess?
„Die Frauen
werden ‚Stopp! ’ sagen“
Interview mit Dr. Marsden Wagner | Teil 3
Katja Baumgarten
spricht im dritten Teil des Interviews mit Dr. Marsden
Wagner über seine Visionen. Der Perinatalmediziner, Wissenschaftler und
WHO-Experte aus den USA sieht einen radikalen Wandel in der Geburtshilfe
voraus: weg von der Medikalisierung, hin zu einer stärkeren Humanisierung
Ich erfasste die Tragweite der Medi-
kalisierung und erkannte, dass wir die
Geburt entmedikalisieren und huma-
nisieren müssen – und an diesem Ziel
habe ich seitdem gearbeitet. Mein neues
Buch „Born in the USA“, das 2007 er-
schien, handelt zwar von der Situation
in den USA, aber auch die Menschen
in Deutschland und in vielen anderen
Ländern werden davon beeinflusst, was
in den USA passiert. Und vieles voll-
zieht sich ebenso in Deutschland oder
anderswo, wie der Anstieg der Kaiser-
schnittrate. Man kann viel von diesem
Buch lernen, auch wenn man nicht aus
den USA kommt. Beispielsweise heißt
ein Kapitel „Stammesgeburtshilfe“: Es
setzt sich damit auseinander, wie man
Geburtshelfer wird, wie man Mitglied
„eines Stammes“ wird – eines Stammes,
der Regeln hat. Es gibt ja den italieni-
schen Begriff der „Omerta“, das Schwei-
gegebot der Mafia, dass du niemals in
der Öffentlichkeit erzählen darfst, was
innerhalb der Mafia vor sich geht.
Ein kräftiger Vergleich – Geburtshil-
fe funktioniert nach den Regeln der
„Omerta“?
Wir Geburtshelfer schützen uns vor
jedem mit unserem Wissen und unse-
ren Informationen. Wir organisieren
Treffen im Krankenhaus, wo wir Fälle
diskutieren. Aber wir tun dies unter
Ausschluss der Öffentlichkeit und be-
richten niemandem davon. Oder wir
erzählen uns auf Tagungen von Ge-
burtshilfeverbänden gegenseitig, was
wir doch für einen wunderbaren, per-
fekten Job machen. Wenn du diese acht
oder zehn langen Jahre der Ausbildung
beendet hast, fühlst du, dass du mäch-
tig bist und Kontrolle hast. Es gibt ein
großes Gefühl: Ich bin ein Geburtshelfer,
ich bin ein Mediziner, ich weiß alles
darüber, alle sind mir unterlegen mit
ihrem Wissen und ihrer Wichtigkeit!
Das ist etwas, was wirklich passiert,
auch in Deutschland oder wo auch
immer, und es beeinflusst alles, was
Geburtshelfer tun.
Machtgebaren dient sicher kaum der
Weiterentwicklung in der Geburtshilfe.
Die beschriebene Einstellung ist unter
Geburtshelfern sehr stark verwurzelt:
Ihre Art, die Geburt zu begleiten, sei
die sicherste und beste Methode. Selbst
wenn man ihnen mit sehr guten wis-
senschaftlichen Belegen kommt, dass
etwas, woran sie glauben, falsch ist,
werden sie sich nicht ändern. Die ge-
plante Hausgeburt ist dafür das beste
Beispiel: Das American College of Obs-
tetricians and Gynaecologists hatte über
30 Jahre lang eine offizielle schriftliche
Grundsatzerklärung, dass Hausgeburten
gefährlich sind. Im Juni 2005 wurde
im
British Medical Journal
von den
Epidemiologen Kenneth C. Johnson und
Betty-Anne Daviss eine große Studie
veröffentlicht, in der über 5.000 geplan-
te Hausgeburten erfasst worden waren
Videostills: Katja Baumgarten
Wagner, M.: Creating Your Birth
Plan – The Definitive Guide to a
Safe and Empowering Birth. Perigee/
Penguin. USA (2006)
Wagner, M. et. al.: Born in the USA
– How a Broken Maternity System
Must Be Fixed to Put Women and
Children First. University of Califor-
nia Press. Berkeley (2008)
Wagner, M.: Having a Baby in Euro-
pe. WHO (1985)
Buchtipps
Dr. Marsden Wag-
ner: „Das Erlebnis der
Hausgeburt hat einen
persönlichen Prozess in
Gang gesetzt.“